Interview

Werkstoffkunde

31.03.22

Bewegte Zeiten für das Dentallabor

Werkstoffkundeforschung an der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik, LMU München

Annett Kieschnick

Die Digitalisierung stellt Zahnarztpraxen und Dentallabore auf eine harte Probe, denn der Wandel ist gewaltig. Zahntechniker sind seit Jahren mit digitalen Fertigungstechnologien vertraut, doch Digitalisierung endet nicht mit CAD/CAM. Im Gegenteil: Die Digitalisierung scheint jetzt erst richtig Fahrt aufzunehmen. Wie können sich Dentallabore darauf vorbereiten? Das „alte“ Geschäft muss am Laufen gehalten und zugleich sollen neuen Verfahrensweisen erprobt werden. Der Zahntechniker John Meinen beschäftigt sich an der LMU München viel mit zukunftsorientierten Entwicklungen. Im Interview spricht er mit Annett Kieschnick über verschiedene Aspekte der Digitalisierung und deren Relevanz für die Zahntechnik.

Lieber John, Du arbeitest als Zahntechniker an einer Universität. Was genau umfasst Deine Tätigkeit?
John Meinen: An der LMU München arbeite ich seit 1999. Bis vor Kurzem war ich als Zahntechniker in der Lehre in der Vorklinik und im Dentallabor der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik der Uni tätig. Mir hat es immer viel Spaß gemacht, ebenso wie die Zusammenarbeit mit den Studierenden in der Vorklinik. Bei uns im Labor wird wie in jedem gewerblichen Dentallabor Zahnersatz gefertigt. Seit einigen Monaten bin ich nun im Team der Werkstoffkunde-­Prothetik tätig und beschäftige mich viel mit neuen Fertigungstechnologien und unterstütze Produktentwicklungen und Studien. Die Arbeit hier ist sehr wissenschaftlich orientiert. Es wird geforscht, entwickelt, gemessen, ausgewertet – für mich ist das der nächste Schritt in meinem Berufsleben.

Wie viel Prozent Deiner Arbeitszeit verbringst Du mit digitalen Technologien?
Meinen: Das digitale Handwerk hat in meinem ­Arbeitsalltag sukzessive zugenommen. An der LMU bin ich quasi mit der Digitalisierung der Zahntechnik „groß geworden“. Wir haben schon Ende der 1990er Jahre mit CAD/CAM-Systemen gearbeitet beziehungsweise diese getestet und Verfahren mitentwickelt. Während der ganzen Zeit habe ich viele neue Systeme kommen und teilweise auch wieder gehen sehen. Der Anteil digitaler Tätigkeiten beträgt heute deutlich mehr als 50 Prozent. In der Werkstoffkundeforschung arbeiten wir ausschließlich digital. Wir ­konzentrieren uns auf Werkstoffe, die im Rahmen der digitalen Zahnmedizin zum Einsatz kommen, zum Beispiel 3D-Druckmaterialien oder Zirkonoxid.

Dentallabore sind in der Regel digital gut ausgestattet. Scanner, Drucker, CAD/CAM-System – das Ende der Digitalisierung scheint aber nicht erreicht. Oder worauf sollten sich Labore vorbereiten?
Meinen: Als Zahntechniker bringen wir beste Voraussetzungen mit, um fester Teil der digitalen Zahnmedizin zu sein. Wir haben fundierte handwerkliche Fertigkeiten, hohe Werkstoff-Kompetenz, zahntechnische ­Expertise und sind digital affin. Doch wir müssen uns darüber klar sein, was die Veränderungen bedeuten. Der Nachschub an neuer Soft- und Hardware wird nicht ­abreißen. Wer sich für die digitale Zahntechnik entschieden hat, muss sein Wissen auf dem Laufenden halten. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, ist Flexibilität wichtig. Nur so können gewerbliche Labore den Veränderungen (zum Beispiel mehr Marktteilnehmer wie Fertigungszentren, Industrie, Praxislabore) langfristig standhalten. Analoge Fertigungsmethoden werden mehr und mehr verschwinden (Beispiel: Verblendtechnik). Dies hat Vor- und Nachteile. Einerseits gewinnt das Labor an Wirtschaftlichkeit. Andererseits besteht die Gefahr, dass monolithische Restaurationen direkt in der Zahnarztpraxis gefertigt werden. Hier spielt auch die neue Approbationsordnung eine große Rolle, denn diese rückt die Digitalisierung weiter in den Fokus.

Die neue zahnärztliche Approbationsordnung gilt seit Oktober 2021. Welchen Einfluss hat dies für die zahntechnische Arbeit?
Meinen: Die reformierte Approbationsordnung legt bei angehenden Zahnärzten hohen Wert auf das Vermitteln digitaler Kompetenzen. Die Studierenden werden frühzeitig mit digitalen Verfahrensweisen vertraut gemacht, da die Digitalisierung künftig sowohl in Diagnostik als auch Therapie eine große Rolle einnehmen wird. Dies betrifft auch prothetische Behandlungen und somit die Zahnersatzfertigung. Die Studierenden lernen den Umgang mit ­Intraoralscanner, Software und Fertigungseinheit. Dies alles wird sich auf die spätere praktische Tätigkeit der Zahnärzte auswirken. Ich denke, dass die flächendeckende Grund- und Selbstversorgung durch Zahnarztpraxen weiter zunehmen wird.

Hand aufs Herz: Hat das klassische analoge Handwerk aus Deiner Sicht in Zukunft noch Relevanz?
Meinen: Der Bedarf an guten Zahntechnikern wird bleiben, allerdings entwickelt sich Zahntechnik zu einem „Nischen-Handwerk“. Der Teilbereich unseres Berufes, der auf Kreativität, Einfallsreichtum und handwerklichem Geschick ­beruht, bleibt unverzichtbar. Bestimmte Dinge können mit der Digitalisierung einfach nicht standardisiert werden. Insbesondere spezielle prothetische Rehabilitationen wie Kombi-Arbeiten, herausnehmbarer Zahnersatz oder einzelne Frontzahnkronen werden weiterhin in Zusammenarbeit mit dem Zahntechniker umgesetzt.

Wie können sich Dentallabore auf die Verbreitung von Intraoralscannern vorbereiten?
Meinen: Das Dentallabor sollte der Technologie offen gegenüberstehen und befähigt sein, die Daten zu verarbeiten. Der Intraoralscanner bringt viele Vorzüge mit sich. Abgesehen von Präzision, Patientenkomfort et cetera ist die deutlich engere Abstimmung im ­prothetischen Arbeitsteam zu betonen. Nie zuvor schien es so gut möglich, sich auf Basis gleicher Informationen auszutauschen. Auf virtuellem Weg können Planungen besprochen und gegebenenfalls gemeinsam optimiert werden; das steigert die Qualität der Arbeit nochmals. Es bedarf einer sehr guten Kommunikation zwischen Praxis und ­Labor. ­Dentallabore sollten bezüglich der Verarbeitung von Intraoralscan-Daten entsprechende Expertise ­besitzen und eine datenschutzkonforme Infrastruktur bieten. Das Labor muss zwar keinen eigenen Intraoralscanner besitzen, sollte jedoch ein komfortables Datenmanagement beziehungsweise Serverstrukturen gewährleisten können.

Und wie könnte sich das Berufsbild verändern?
Meinen: Digitalisierung, Fachkräftemangel, steigende Anzahl an Marktteilnehmern, wirtschaftlicher Druck, bürokratische Regularien et cetera – das gewerbliche Dentallabor steht vor ­vielen Herausforderungen. Letztlich wird sich die Situation nivellieren. Der Markt regelt sich meistens selbst. Kleinere Restaurationen werden in der Zahnarztpraxis beziehungsweise im ­Praxislabor gefertigt, in dem geschulte Zahntechniker arbeiten. Zugleich wird es spezialisierte Dentallabore geben, die sich beispielsweise auf komplexe Restaurationen oder High-End-Ästhetik fokussieren. Zudem werden Zahntechniker eine wichtige Supportfunktion einnehmen, zum Beispiel in Sachen Werkstoffkunde, Ästhetik, Funktion. Allerdings müssen wir aufpassen, dass wir nicht nur zum „Steigbügel“ werden. Dies hängt größtenteils davon ab, wie selbstbewusst wir uns den Veränderungen anpassen. Für die Zahntechnik eröffnet sich eine große Chance; das Berufsbild könnte und sollte sich verändern. Es gibt bereits heute duale Studienangebote für Zahntechniker.

Momentan wird die nächste Etappe – Künstliche Intelligenz (KI) – gehypt. Von einigen Seiten sind die Erwartungen hoch. Wie erachtest Du das Potenzial von KI für Zahnmedizin und Zahntechnik?
Meinen: Viele digitale Anwendungen aus der Industrie werden in Zahnmedizin und Zahntechnik übernommen, auch aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI). Hohes ­Potenzial hat die Technologie beispielsweise für die datengestützte Zahnmedizin; ­speziell in der Diagnostik (Auswertung bildgebender Systeme), Planung, ­Risikoanalyse, Kariesdiagnostik, Monitoring et cetera. In der Zahntechnik könnte KI als Lernhilfe für Auszubildende dienen. Beispielhaft ist das ­LeSoDent-Projekt, an welchem wir aktuell mit Partnern arbeiten. Es handelt sich um eine Lernsoftware, die auf KI-Technologien basiert. Bislang war immer die analoge Technik Basis für die digitale Technologie. Andersherum kann die KI nun die analogen Fertigkeiten fördern. Grundsätzlich nimmt uns die KI jedoch keine Entscheidungen ab, sondern bietet lediglich eine ­Varianz und dient der Entscheidungsfindung. Dies kann die Sicherheit erhöhen und den Aufwand beziehungsweise die Kosten minimieren.

Für viele klingt KI bedrohlich und sie fragen sich: „Was kommt nun wieder auf uns zu?“ Kannst Du die Bedenken entkräften?
Meinen: KI passiert nicht von heute auf morgen, sondern ist ein Prozess. Schon jetzt leben wir mit KI-Technologien. Wir merken es oft gar nicht mehr; wir haben uns schlicht und einfach daran gewöhnt. Auch im Dentallabor begleiten uns KI-Anwendungen. Als Beispiel seien CAM-Maschinen genannt, die durch KI eine Automatisierung des Workflows genehmigen (zum Beispiel Werkzeugwechsel). Zunehmend werden in der CAD-Software KI-Funktionen integriert und die Algorithmen über Updates eingespeist. Beispiel ist das automatische Erkennen von Ästhetik-Parametern (Bipupillarlinie, Lippenlinie et cetera) für das Smile-Design oder das Biogenerik-Modul für das Konstruieren von Kronen und Brücken. Auch die automatische Schichtstärken-Erkennung (kritische Wandstärke) ist KI-basiert. Fehlerquellen werden durch die Technologie gesenkt und die Effizienz erhöht. Hilfreich sind KI-Anwendungen zudem im Material- und Logistiksystem des Dentallabors. So könnte automatisch der Bestellprozess ausgelöst werden beziehungsweise daran erinnert werden, wenn beispielsweise die Zirkonoxid-Ronden im Lager zur Neige gehen. Oder Maschinen erkennen automatisch das Material und passen Frässtrategien oder Druckparameter entsprechend an. Das sind nur einige Beispiele dafür, wie KI die Arbeit im Dentallabor optimiert. Ergänzend dazu ist die KI-gesteuerte Laboradministration ein interessanter Bereich: Abrechnung, Bestellwesen, Finanzbuchhaltung, Marketing, Personalwesen et cetera.

Was könnte sich durch das Maschinelle Lernen (ML) im Dentallabor verändern?
Meinen: Das Maschinelle Lernen (ML) ist ein Teil der KI und verändert unsere Arbeitswelt. ML bedeutet, aus Erfahrungswerten mittels Algorithmen entsprechendes Wissen zu generieren. Die Maschine lernt selbst, sich Regeln aus vorhanden Daten abzuleiten. Dies führt zu einem deutlichen Qualitäts- und Effizienzgewinn. So kann zum Beispiel die Vorhersagbarkeit von Funktion und Ästhetik eines Zahnersatzes erhoben werden (virtueller Patient) und bei der Behandlungsplanung unterstützen. Mit automatisch erzeugten Designvorgaben (instant ­anatomic morphing) sparen wir wertvolle Arbeitszeit. Zudem können bei der Fertigung passende Frässtrategien für unterschiedliche Aufträge ermittelt werden, was den Arbeitsaufwand reduziert. Fertigungsprozesse werden zukünftig weiter automatisiert. Designvorgaben in Kombination mit automatisierter Fertigung könnten eine Roboterisierung und Autonomie der Maschinen (24/7-Betrieb) ermöglichen. Schon heute arbeiten einige CAD/CAM-Maschinen nahezu autonom.

Die Entwicklung ist rasant. Wie schaffst Du es, Dich auf dem Laufenden zu halten?
Meinen: Naja, ich sage mal so – viele Zahntechniker, mich eingeschlossen, sind lesefaul. Allerdings bin ich im Rahmen meiner Arbeit quasi „verpflichtet“, mich immer mit neuen Werkstoffen und Technologien zu beschäftigen – und es macht wirklich Spaß. Letztlich sollte jeder für sich seinen Weg finden, um auf dem aktuellen Stand zu bleiben. Das ist bei der Schnelllebigkeit unserer Zeit nicht immer leicht, kann aber durch digitale Möglichkeiten gut gemeistert werden. Als Zahntechniker sollten wir uns grundsätzlich auf neutrale Quellen stützen und unser Wissen nicht unkritisch Marketingbroschüren entnehmen. Ob veränderte Arbeitsprotokolle, neue Werkstoffe oder Softwaretools – es gibt viele objektive Informationsquellen. So erachte ich unter anderem moderne Fachliteratur wie das digitale „Werkstoffkunde-Kompendium“ oder den Austausch in interdisziplinären Fachgesellschaften (zum Beispiel EADT e. V.) als sehr wichtig.

Dein Arbeitsalltag fordert Dich sicher sehr. Wie findest Du einen Ausgleich?
Meinen: (lacht) Ja, da geht es mir wie den meisten Zahntechnikern. Meinen Ausgleich finde ich beim Reiten. Ich bin aktiver Vielseitigkeits-Reiter (Eventing). Beim Vielseitigkeits-Reiten werden drei verschiedene Disziplinen vereint – Dressur, Geländeritt, Springen – und dies macht den Sport so spannend. Pferd und Reiter müssen in jeder der Einzeldisziplinen fit sein. Für mich ist Reiten eine optimale Kompensation und Motivation; ich nehme auch an nationalen Bundes-Wettkämpfen teil.

Und wie ich weiß, sehr erfolgreich. Reiten erfordert eine hohe Konzentration, Flexibilität und Achtsamkeit. Helfen Dir diese Eigenschaften im Arbeitsalltag?
Meinen: Ja, selbstverständlich. Aber man muss kein Reiter sein, um sich konzentriert und achtsam seiner Arbeit zu widmen. Was ich vom Reiten in meinen Arbeitsalltag mitnehme, sind Zielstrebigkeit, gesunder Ehrgeiz und Flexibilität. Es ist wichtig, sich offen auf Neues einzustellen. Als Zahntechniker reagieren wir seit Jahren ständig auf Veränderungen. Wer hätte beispielsweise gedacht, dass 2021 fast in jedem Dentallabor ein 3D-Drucker stehen könnte? Wir haben uns der Entwicklung angepasst und, rational betrachtet, einen hohen Standard erreicht. Doch die Veränderungen gehen weiter. Es ist wichtig, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen und auch neue Wege einzuschlagen. Mein „persönlicher Sprung“ führte mich von meiner Tätigkeit im Dentallabor in die dentale Werkstoffforschung.

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